Zeitsouveränität: Ich bin zur rechten Zeit am rechten Ort...

Potsdam, 2. August 2024

In der aktuellen Ausgabe des Coaching-Magazins (2024) findet sich ein Interview mit dem Berliner Philosophen, Coach und Autor Olaf Georg Klein. Ihm verdanke ich den schönen Begriff der "Zeitsouveränität", den er in seinem Buch "Zeit als Lebenskunst" (2010) entwickelt. Drei Beobachtungen, warum eine alternative Perspektive auf das "Zeitmanagement" lohnen könnte – und was Karl May dazu zu sagen hat.

Versäumnisangst

Klein unterscheidet zunächst zwei Dimensionen von Zeit: Eine Oberflächendimension, in der Zeit uns als eine Einheit erscheint, etwa ein Tag, den wir strukturieren wollen. Da wir ja möglichst viel schaffen oder erleben wollen, müssen wir optimieren – mit "Zeitmanagement". Wer hat nicht schon von der "Eisenhower-Matrix" oder der "Pomodore-Technik" gehört und Dinge wie "time boxing", "deep work" oder den "untouchable day" ausprobiert? Vielleicht können wir mit Hilfe von smarten Tools – und jetzt auch noch Künstlicher Intelligenz – ja doch den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen? Vielleicht sogar noch ein "side hustle", eine Geschäftigkeit in der Freizeit, in den Tag hineinquetschen? Oft stellen wir bei der neuesten "zeitsparenden" Technik oder App aber fest, dass die ihren eigenen Zeitaufwand in sich trägt – ein Phänomen, dass der Soziologe Hartmut Rosa als "dynamische Stabilisierung" beschrieben hat.

Denn bisher hat noch jede technische Entwicklung dazu geführt, dass mit ihr zwar Zeit "gespart" wurde – aber eben nicht zum Nulltarif. So sehr etwa die Waschmaschine die Hausarbeit auch erleichterte und verkürzte, desto häufiger wurde immer mehr Wäsche gewaschen. Mit dem Auto ließen sich auf einen Schlag einst unerreichbare Ziele erreichen - um den Preis, dass nun häufiger noch längere Distanzen zurückgelegt wurden. Und so weiter, höher, schneller.

Die Erhöhung der Produktivität entpuppt sich also meist als Illusion, schlimmstenfalls verlieren wir uns im endlosen Kreislauf der To-do-Listen, die niemals vollständig abgearbeitet werden können, die "immer länger [sind] als das Leben." (Kara, Schnabel: 2022).

Hinzu kommen all die digitalen Versuchungen, die nur ein Klick entfernt sind, "random rewards", mit denen wir unser Gehirn "belohnen" und wohl auch konditionieren. Wo so viel gleichzeitig möglich ist, muss ich immer wieder entscheiden – für das eine in diesem Moment und damit gegen alles andere, das auch gerade ginge. Das stresst und "Versäumnisangst" wird für viele zu einem vertrauten Begleiter.

Dabei ist unser Leben endlich - statistisch umfasst es in unseren Breitengraben durchschnittlich "4.000 Wochen". So auch der Titel des Bestsellers von Oliver Burkeman von 2022. Er empfiehlt dann auch eher den Verzicht, ein Zeitmanagement für Sterbliche, das Aussortieren nach dem Prinzip von "Not-to-do" Listen. Fokus finde man eher durch Weglassen als durch Priorisierung – oder gleich durch eine "Kultur des Aufhörens", wie Harald Welzer (2021) meint.

Eine Tiefendimension von Zeit

Während die Ökonomisierung von Zeit ("Zeit ist Geld", "Versäumnisangst") als permanenter Antreiber wirkt und jede Art von Muße verhindert, können, so Klein, in einer zweiten Dimension der Zeit, auf Abstand auf das von der Uhrzeit bestimmte Modell von Zeit gehen. In einer durch Wachstumslogik gekennzeichneten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen. Denn hier wird üblicherweise, wie schon im verräterischen Begriff der "Work-Life-Balance" zum Ausdruck kommt, zwischen Arbeit und Leben unterschieden. Denn beruflicher Erfolg dient - das hat schon Max Weber in seiner Arbeit zum "Geist des Kapitalismus" so eingängig beschrieben - einerseits ein Beleg einer gesunden protestantischen Arbeitsethik und andererseits als der Weg der gesellschaftlichen Zugehörigkeit im Kapitalismus. Möge die Generation Z dieses Selbstbild auch zunehmend herausfordern, die meisten Menschen definieren sich hierzulande auch heute immer noch vornehmlich über das, was sie beruflich tun - und wie gut sie darin sind. Selbstausbeutung und Arbeitssucht lassen sich als Symptome dieser Entwicklung lesen. Es mag kein Zufall sein, dass gerade beruflich sehr erfolgreiche Menschen und mit sehr hohen Ansprüchen an sich selbst überdurchschnittlich von Depressionen betroffen sind. Dabei werden depressive Zustände häufig, so Hartmut Rosa (2013: 100), "als eine dramatische Veränderung [der] Zeitwahrnehmung erlebt, in dem [Menschen] aus einem Zustand dynamischer oder hektischer in eine gleichsam stillstehende Zeit fallen, die sich in eine zähe Masse verändert zu haben scheint".

Um uns die Tiefen- (Klein) oder weitere Dimensionen von Zeit zu erschließen, müssten wir zunächst, so Schmidt-Lellek (2008: 66), die "selbstverständlich geltenden gewöhnlichen Betrachtungsweisen" hinter uns lassen und "aus diesem Abstand heraus zu anderen Wahrnehmungen und Bewertungen des Lebensalltags [kommen] … und vor allem den häufig einseitig auf die Arbeitswelt fokussierten Blick auf das Lebensganze" ausweiten. Momente, in denen die Zeit wie aufgehoben erscheint, lassen sich als Kontakt mit der Tiefendimension der Zeit interpretieren: Momente im Urlaub, mit Freunden, im Flow beim Sport oder kontemplative Erfahrungen mit "zeitlosen" Kunstwerken. Diese Freiräume und eher spielerischen Zugänge zur Wirklichkeit lassen sich suchen und stärken.

In dieser Tiefendimension ist die Zeit unteilbar und wir können "Besonnenheit und Selbstzentrierung" stärken, indem wir uns "… inmitten der unzähligen Möglichkeiten auf allen Ebenen… die Ruhe und Gelassenheit [geben]… genau das zu tun, was wir gerade tun." Als Gegengift zur Versäumnisangst gilt hier: "'Ich bin zur rechten Zeit am rechten Ort und tue mit Erfolg genau das Richtige.'" (Klein, 2010: 34).  

Zeitsouveränität

Ein solches Mantra ist eher eine Frage der inneren Haltung und des Selbstvertrauens – und nicht eine Frage objektiv überprüfbarer Fakten. Denn schließlich hängt es von unserer eigenen Setzung ab, was das Richtige für uns ist – und damit sind wir in der Verantwortung. "Zeitsouveränität" meint hier beides: unsere " Hoheitsrechte über die eigene Lebenszeit… und andererseits "sich einer besonderen Lage oder Aufgabe jederzeit gewachsen zu zeigen"

In einem durch hohe Leistungserwartungen geprägten Umfeld, in dem sich viele meiner Klientinnen und Klienten bewegen, sind "Not-do-Listen", "Lassenskraft" und "Nein sagen" nicht leicht umzusetzen. Die Möglichkeit, den auf uns wirkenden Druck jeweils zu verstärken oder abzuschwächen oder auch ganz bewusst abzuwehren, besteht aber (fast) immer. Die Fähigkeit zur "Zeitsouveränität" zu stärken und zu erhalten ist deshalb ein wichtiger Gegenstand in meinen Trainings und Coachings geworden.

Dabei greife ich schon mal auf Karl Mays (2001: 130f.) Romanhelden zurück. So heißt es im "Ölprinz":

"'Müssen?', fiel Baumgarten ein. 'Das wohl nicht. Winnetou und Old Shatterhand können uns ja nachkommen oder, wenn sie das nicht wollen, hier warten, bis ihr zurückkehrt. Bedenkt, dass Old Shatterhand und Winnetou freie Herren ihrer Zeit sind.' 'Das geben wir zu. In dieser Beziehung sind wir Westläufer nicht nur Freiherren, sondern Grafen und Fürsten.'"

Wieviel Westläufer steckt in euch?

 

Quellen:

Burkeman, Oliver, 2022: 4000 Wochen: Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement. Piper

Coaching-Magazin, 2024: Interview mit Olaf Georg Klein. Philosophisches Denken und Zeitperspektiven im Coaching. Ausgabe 2. https://www.coaching-magazin.de/portrait/interview-mit-olaf-georg-klein Zuletzt abgerufen am 2. August 2024

Kara, Stefanie; Schnabel, Ulrich, 2022: "Da platzt mir der Kopf!". In: Die ZEIT. Ausgabe 44/2022. Aktualisiert am 31. Oktober 2022. https://www.zeit.de/2022/44/oliver-burkeman-aussortieren-stress-konzentration Zuletzt abgerufen am 2. August 2024

Klein, Hans Olaf, 2010: Zeit als Lebenskunst. Wagenbach

May, Karl, 2001: Der Ölprinz. Gesammelte Werke, Band 37. Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid. Karl-May-Verlag

Rosa, Hartmut, 2013: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Suhrkamp

Schmidt-Lellek, Christoph J., 2008: Vier Dimensionen des Tätigseins. Ein heuristisches Modell zur Work-Life-Balance. Schmidt-Lellek, Christoph J.; Schreyögg, Astrid (Hrsg.). Praxeologie des Coachings. Sonderheft 2. OSC: Organisationsberatung, Supervision, Coaching. GWV Fachverlage: Wiesbaden

Welzer, Harald, 2021: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. S.Fischer.