Sinnorientierte Führung: Ist weniger mehr?

 

Potsdam, 21.12.2023

Die Corona-Pandemie hat neben massiven Einschränkungen vielen von uns auch die Möglichkeit beschert, einmal hinter unser berufliches Tun zurückzutreten, uns selbst zu beobachten und zu fragen: Warum tue ich das alles, was ich hier tue? Welchen tieferen Sinn hat mein berufliches Tun? Oder anders gefragt: Welchen Sinn ich meinem Tätigsein eigentlich geben?

Organisationen und Wirtschaftsunternehmen, so scheint es, wenn man aktuellen Beiträgen der Management-Literatur Glauben schenkt, haben den "Purpose" entdeckt: Den Nutzen des übergreifenden Zwecks einer Organisation (Lambers 2023). Damit ist mal der Daseins-Zweck gemeint, also der tiefere Sinn aller Aktivitäten und Beiträge im Unternehmen, mal eine Anleitung zur Motivation von Mit­ar­bei­terinnen und Mitarbeitern, oft wird mit dem Purpose aber auch ein dezidiert sozial-ökologischer Anspruch formuliert.

Uneigennützig ist das kaum: So spricht der Leipziger Managementprofessor Timo Meynhardt im Interview mit dem Harvard Business Manager (2020) davon, dass "Unternehmen … heute nicht mehr umhin [kommen], die Gewinnorientierung an einen Purpose zu koppeln. Oder um es anders zu formulieren: mehr Purpose, mehr Profit". Die Purpose-Studie des Beratungsunternehmen Kienbaum aus dem Jahr 2021 kommt zu dem Ergebniss, dass die Einführung eines wertvollen Unternehmenspurpose die Mitarbeiterzufriedenheit in drei Viertel der befragten Unternehmen zum Positiven veränderte (Kienbaum 2021)

Ist "Purpose" also nur ein Euphemismus oder steckt mehr dahinter? Ist es überhaupt sinnvoll dass Organisationen, ob profit- oder gemeinnützig orientiert, einen Sinn anbieten? Welche Rolle spielen Führungskräfte bei der Sinnstiftung in Organisationen, in ihren Teams?

Dazu wieder im Folgenden drei Beobachtungen:

Sinnorientierte Führung: Könnte weniger mehr sein?

Vielleicht kennen Sie dieses Gedankenexperiment: Sie stehen in einer Kapelle und sind unsichtbarer Gast bei Ihrer eigenen Beerdigung. Ihr Partner oder Ihre Partnerin hält eine kurze Rede, dann eines Ihrer Kinder, gefolgt von einem guten Freund: Was werden sie von Ihnen erzählen? Für welches Warum und Wozu haben Sie gelebt, was war Ihre Leidenschaft? Dieses Szenario wird gern spielerisch durchdacht, um den wirklich wichtigen Dingen im Leben nachzuspüren. Fügen wir ihm aber noch einen Akzent hinzu: Als letzter der Trauerredner spricht einer Ihrer Mitarbeiter, denn Sie waren lange Jahre Führungskraft: Wird er etwas davon erzählen, wie Sie sinnstiftend und sinnorientiert geführt haben und wie Sie das geschafft haben?

Dem Sinn unseres Daseins nachzuspüren liegt in der Natur des Menschen und dieser Weg kennt keine einfache Navigationshilfe. In der aktuellen Führungsdebatte steht die sinn- und wertorientierte Führungskraft jedenfalls hoch im Kurs. Die Popularität traditionell hierarchischer und direktiver Führung hat hingegen gelitten – auch wenn sie sicher nicht verschwunden ist -, denn in arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmärkten verfügen Top-Down-Führungskräfte über wenige Sanktionsmöglichkeiten und kein Herrschaftswissen mehr.

Trotzdem oder gerade deshalb soll Führung Sicherheiten überzeugend präsentieren, über die sie selbst nicht verfügt. Daraus ergibt sich, so der Organisationsberater Falko von Ameln (2017) eine eigentümliche Machtlosigkeit der Führungsrolle: Sie ist in hohem Maße auf Mitwirkung der Geführten sowie die Legitimation durch die Organisation angewiesen. Internalisierte Leistungsmotive von Mitarbeitenden werden wichtiger und hier setzen dann auch Sinnangebote durch Führungsleitbilder und Mission Statements von Organisationen an: "Führungs- und Kontrollmacht" verabschiedet sich von "Hoheitsmacht". Stattdessen - so formuliert von Ameln in Anlehnung an Bernd Schmid – gilt es, etwas anderes in den Vordergrund zu stellen: "Schöpfermacht", also die Fähigkeit, Räume für die gemeinsame Gestaltung zu schaffen und "Sinnmacht", also sinnstiftendes Handeln, an dem sich andere orientieren können.

Management-Bestseller wie das viel beachtete Buch "Reinventing Organizations" des früheren McKinsey-Beraters Frederic Laloux (2017) feiern Unternehmen, deren erklärter Zweck eben nicht möglichst viel Profit ist, sondern positiv in der Welt zu wirken; Unternehmen, die einem eigenen evolutionären Sinn folgen. Bestenfalls stimmt dieser übergreifende Sinn der Organisation mit dem individuellen Sinn der Mitarbeiter überein, so dass sich diese gegenseitig verstärken. Vielleicht fällt Ihnen an dieser Stelle eine NGO ein, die Sie unterstützen und deren Organisationszweck enorme Bindungskraft für die Mitarbeiter entfaltet. Aber lässt sich der Sinn für den Einzelnen harmonisch in einen Purpose, den Sinn und Erfolg des Unternehmens einfügen und umgekehrt?

Wie empfindlich man – zu Recht, wie ich finde – auf "Sinnhinweise" von außen reagieren kann, zeigt der ja in erster Linie sehr wertschätzende Applaus für medizinische Pflegepersonal (und "andere systemrelevante" Berufe) zum Beginn der Corona-Krise: Schnell wurden diese Würdigungen in der öffentlichen Debatte abgelöst von – ebenso legitimen – Forderungen nach besserer Bezahlung und Ausstattung für diese finanziell nicht gut gestellten Berufsgruppen. Nicht wenigen Pflegerinnen und Pflegern mag der aus der Höhe von Balkonen gespendete Applaus wie eine, nun ja, "Fensterrede" vorgekommen sein, die einen hohlen Nachklang hatte.

Ein anderes Beispiel: Ein guter Bekannter ist mit seinem stetig wachsenden Unternehmen sehr erfolgreich. Er lebt, eigener Aussage nach, seinen Traum. Wir ihn kennt, glaubt ihm das sofort. Das hindert ihn aber nicht daran, seine Angestellten (nur) den branchenüblichen Mindestlohn zu zahlen - damit sein Unternehmen am Markt bestehen kann. Inwiefern seine Mitarbeitenden die Begeisterung ihres Chefs für seinen Traum teilen, mag offen bleiben.

Man könnte daraus folgern, dass Organisationen eher darauf verzichten sollten, ihren Mitarbeitenden Sinn einzureden. Denn die haben in der Regel schon ein sehr gutes Gefühl für den Sinn ihrer Tätigkeit und unterziehen ihm täglich einem Praxistest. Aber schauen wir nochmal etwas genauer hin, was mit "Sinn" noch gemeint sein könnte.

Sinn kann auch unter extremen Bedingungen gefunden werden

Bleiben wir dazu nochmal bei der Vorstellung Ihrer eigenen Beerdigung: Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein erfülltes Leben gehabt – aber auch Leid, Not und Mangel erlebt, über viele Jahre.

So ging es Viktor Frankl, dem berühmten Psychologen und Begründer der Logotherapie, der in vier Konzentrationslagern interniert war und dort unermessliches Leid erfahren hat. Darüber hat er Ende der 40er Jahre (check) ein kleines, zunächst unbeachtetes, später viel gelesenes Buch geschrieben, das den bezeichnenden Titel trägt: "… trotzdem ja zum Leben sagen". Darin wendet er die Frage nach Sinn auf eine ganz besondere Weise, denn nicht nur "schöpferisches und genießendes Leben [habe] einen Sinn". Die für die Lagerinsassen existenzielle Frage, so Frankl (2009: 72), war: "'Werden wir das Lager überleben? Denn nur dann hätte unser Leiden einen Sinn.' Doch für mich lautete das Problem anders – mein Problem war genau das umgekehrte: Hat das Leiden, hat das Sterben einen Sinn?"

Frankl gibt darauf vielschichtige Antworten, die zu erörtern, an dieser Stelle zu weit führen würden. Eine Stelle aber möchte ich hier zitieren: "[Nur wenn das Leiden auch Sinn hat] (Denn) [N]ur dann – könnte das Überleben einen Sinn haben! Mit anderen Worten: nur ein sinnvolles – ein auf jeden Fall sinnvolles – Leben erschien mir wert, erlebt zu werden, ein Leben hingegen, dessen Sinnhaftigkeit dem rohesten Zufall ausgeliefert ist – dem Zufall nämlich, ob man mit ihm, dem Leben, nun davonkommt oder nicht – ein solches Leben, mit so fragwürdigem Sinn, musste mir eigentlich auch dann nicht lebenswert erscheinen, wenn man mit ihm davonkommt…"

Man muss mit Frankls Wendung der Sinnfrage nicht übereinstimmen. Was wir aber von dieser Wendung lernen können, ist, dass es nicht darauf ankommt, was ich tun muss, damit es mir gut geht, sondern ob ich bereit bin, – salopp formuliert - "Sinnanfragen", die das Leben an mich macht - etwa in Form besonderer Herausforderungen  - anzunehmen, so dass Sinn sogar in extremen Situationen gefunden werden kann. Frankl hat die so gestellte Sinnfrage nicht nur geholfen, das Konzentrationslager seelisch zu überstehen, sie ist später auch wichtiger Bestandteil seiner sogenannten Logo- und Sinntherapie geworden.

"Nach Frankl kann Sinn also nicht gegeben, sondern nur gefunden werden: indem man etwas schafft oder tut, in dem man etwas erlebt oder liebt oder in einer ausweglosen Situation, in der etwa Leiden in eine Leistung umgestaltet werden kann.

Sinn kann nicht gegeben, sondern nur gefunden werden

Vor vielen Jahren gab es in meiner damaligen Wohngegend eines Berliner Innenstadtbezirks eine kleine Videothek. Der Besitzer hatte sie "Video Inn" genannt – also Inn mit zwei "n" – und ihr einen Slogan verpasst, der weithin sichtbar über der Tür prangte. Dort las man: "Video Inn. Wir geben ihrer Freizeit Sinn." Ob viele Kunden in dieser Videothek Sinn gefunden haben, kann ich nicht sagen. Einige unterhaltsame Filme gab es dort ganz sicher.

Auch dieses weitere, zugegebenermaßen etwas: kalauernde Beispiel zeigt, dass Sinnzuschreibungen von außen nur sehr begrenzt funktionieren können. Man könnte auch sagen: Wird das Sinn- und Identitätsangebot zu explizit formuliert, lädt es eher zur Verneinung ein. Wenn individuelles Sinn-Erleben zudem an einen inneren Zustand gekoppelt, d.h. an ein, ja: Gefühl von Kongruenz, bei dem Bewusstsein und Unbewusstes zusammenwirken, dann ist Sinn-Stiftung von außen unmöglich. Sondern lediglich die Förderung günstiger Umstände, die Sinn-Findung möglich macht. Denn wenn Sinn ge-funden wird, dann wird er meist emp-funden.

Dazu braucht es Führungskräfte, die die Motivation aller Beteiligten mit Bezug auf das große Ganze stärken und damit die verschiedenen Beiträgen zum Ganzen überhaupt erst würdigen. Aber von Führungskräften zu erwarten, dass sie Mitarbeitende davon überzeugen, dass Arbeit Sinn stiften kann (oder gar muss), könnte eine Überforderung sein. Denn in den meisten Organisationen existieren unterschiedliche Werte und verschiedene Handlungsziele und –zwecke nebeneinander her, manchmal stehen sie gar miteinander in Konkurrenz: Denken Sie hier etwa an profitorientierte Gesundheitsunternehmen, bei denen das Aufsetzen eines übergreifenden Sinns ­- "Pflege mit Herz" – bestehende Ziel- und Zweckkonflikte eher verdeckt, aber nicht aufheben kann. Ein sehr hoher, einheitlicher Sinnanspruch macht Organisationen als große und die von Führungskräften geführten Teams als kleinere Einheiten unflexibel, er reduziert ihre Fähigkeit viele, verschiedene und disparate Zwecke zu tolerieren. Und dort, wo die proklamierten Sinnzuschreibungen und -inszenierungen zu stark mit der wahrgenommenen Praxis auseinanderklaffen, ist Zynismus nicht weit.

Eine aus meiner Sicht hilfreiche Unterscheidung für Sinnangebote kommt vom US-Autor Aaron Hurst, der drei Purpose-Dimensionen unterscheidet (zitiert nach Simon, 2021): Für wen arbeite ich? – das Who. Why: Warum arbeite ich? Und das How: Wie arbeite ich? Führungskräfte haben die Möglichkeit, auf allen drei Ebenen entsprechende Angebote zu formulieren. Vielleicht leisten die Mitarbeitenden Ihres Unternehmens einen kleinen, aber entscheidenden Beitrag zum Wohlergehen der Gemeinschaft und sehen darin ein starkes "Warum und für Wen"-Motiv – auch wenn die Arbeitsbedingungen nicht immer optimal sind. Oder aber diese sind besonders günstig und motivierend, die Mitarbeitenden bilden eine Community und ein Team mit positiv und tief empfundener Verbundenheit. So können Führungskräfte auch nicht immer auf den Zweck ihres Unternehmens Einfluss nehmen, auf die Art und Weise wie ihre Teams aber zusammenarbeitet und wie man miteinander umgeht aber schon.

Habe ich als Führungskraft, salopp formuliert, mehrere Elemente im Sinnangebot, kann ich auch anderen mehr Möglichkeiten geben, ihr "warum, wie und für wen" zu finden. Diesen Raum zu öffnen, ist durchaus eine Führungsaufgabe. Dabei sollten Führungskräfte mit ihren "Sinnangeboten" aber gleichermaßen erwachsenen wie demütig umgehen, damit sie einem Spannungsfeld von Interessen gerecht werden können und sie ihre Mitarbeiter nicht entmündigen. Denn Sinn kann nicht gegeben, sondern nur gefunden werden.

Quellen:

Ameln von, Falko; 2017: Macht und Ethik im Coaching. In: Coaching-Magazin, Ausgabe 1, S. 54-58. https://www.coaching-magazin.de/_Resources/Persistent/b/0/e/c/b0ec7e72cf1c8192c51a4012ea9ae69dd80f98a6/coaching-magazin-2017-1.pdf. Zuletzt abgerufen am 07.12.2023

Harvard Business manager, 2020: "Purpose ist kein Gutmenschentum". Ein Gespräch mit dem Leipziger Managementprofessor Timo Meynhardt. Ein Interview von Ingmar Höhmann. In: Harvard Business manager 2/2020. https://www.manager-magazin.de/harvard/strategie/timo-meynhardt-ueber-purpose-richtige-wortwahl-und-ein-neues-fuehrungsmodell-a-00000000-0002-0001-0000-000168896737 Zuletzt abgerufen am 01.06.2021

Frankl, Victor; 2009: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel-Verlag

Lambers, Sarah, 2023: Sinnfragen in Unternehmen. Das Purpose-Dilemma. In: managerSeminare 309, Dezember 2023

Kienbaum; 2020: Purpose. Die große Unbekannte. Kienbaum Purpose Studie. https://start.kienbaum.com/l/964043/2023-10-04/5r2f5b/964043/1696399387IDPHsnWU/Kienbaum_Purpose_Studie2020.pdf. Zuletzt abgerufen am 07.12.2023

Laloux, Frederic, 2016: Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen: München

Simon, Joachim, 2021: Was gibt meiner Arbeit Sinn? In: BILDUNGaktuell 04/2021, S. 5-7. https://www.bildungaktuell.at/wp-content/uploads/2021/04/ba_04-2021.pdf Zuletzt abgerufen am 01.06.2021