Authentizität ist das, was andere glauben, das wir sind

 

Potsdam, 02.11.2023

Wer authentisch führt, so die Annahme, agiert im Einklang mit seinen innersten Werten, Motiven und Emotionen. Die authentische Führungskraft ist Vorbild und kann somit auch andere zu Verhalten anregen, das wertorientiert und motivkonform ist. Der hohe Kurs, in dem das Konzept authentischer Führung gegenwärtig steht, mag nicht überraschen. Wächst angesichts des rasanten Informationsflusses und globalen Verbreitung von "falschen" Identitäten und "fake news" doch das Bedürfnis nach Orientierung, die Sehnsucht nach dem Unverfälschten, dem Echten, an dem sich lohnt auszurichten.

Schauen wir also etwas genauer hin: Braucht moderne Führung Authentizität und welche Form davon? Ich möchte Ihnen drei Beobachtungen, drei Thesen anbieten.

These 1: Authentizität ist das, was andere glauben, das wir sind

Dazu folgende Szene:

In der 5. Folge der beliebten Show "Germany Next Top Model" der Staffel 2019 steht das "Große Umstylen" an: Die Haare der jungen Kandidatinnen werden umgefärbt, in Lockenpracht gebracht, verlängert oder doch gleich abgeschnitten; sportliche Typen bekommen klassische Klamotten und High Heals; aus der Lieblingsfarbe blau wird grün usw. Bekanntermaßen sind Kandidatinnen meist noch sehr junge Frauen, die zwar alle gut aussehen, von denen aber viele noch kein starkes, bewertungsunabhängiges Selbstbewusstsein ausgeprägt haben – also Personen, deren Wohlbefinden eben sehr viel am Aussehen, also etwa an den langen Haaren hängt.

Zum Abschluss der Folge müssen die umgestylten jungen Frauen ihren Walk machen und kommen am Ende des Catwalks vor einem Spiegel zum Stehen. Neben dem Spiegel sitzt Heidi Klum und ihre Gastjurorin, Stefanie Giesinger, Top Model Gewinnerin von 2014. Beim Blick in den Spiegel müssen die Umgestylten ihr neues Ich nun freudig begrüßen und sagen, wie toll sie sich finden, ja, wie sehr sie ihr neues Ich lieben!

Das gelingt einer Kandidatin, der man die langen Haare kurz geschnitten hat, nicht gut und sie bricht vor dem Spiegel in Tränen aus. Darauf Heidi Klum, sinngemäß: "Findest du dich etwa nicht schön? Du siehst doch toll aus. Du musst ganz authentisch sein, man mussen merken, wie sehr du dein neues Ich magst." Ihre Co-Jurorin Stefanie Giesinger sagt hingegen: "Ja, nee, also da musst professionell sein, man darf dir nicht anmerken, dass du innerlich schluckst, dass du dich im Moment nicht schön findest, das musst du als Model können, da musst du Profi sein."

Diese Szene zeigt für mich recht gut: Was vollkommen, vorbehaltlos authentisch ist, ist eben oft überhaupt nicht professionell. Paradoxerweise, so der Management-Berater Stefan Wachtel (2018) wirkt das Eingeübte, das Professionelle auf andere umso authentischer, wenn es zu uns passt. Menschen, die wir interessant oder inspirierend finden, sind mitnichten solche, aus denen ungefiltert herauskommt. Man denke hier etwa an Donald Trump, einen Politiker, der im klassischen Sinne wohl ziemlich authentisch ist – was einige Leute wie seine Anhänger gut finden, aber die meisten doch ziemlich abstoßend. (Aber wer weiß: Vielleicht ist Donald Trump sogar nur ein Trump-Darsteller, aber ein verdammt guter!)

Ich denke: Führungskräften geht es genauso wie Models: Um erfolgreich zu sein, brauchen sie beides, eine hohe Rollenkompetenz UND eine gute Distanz zu Ihrer Rolle, mit anderen Worten eine professionelle Authentizität.

Was mich zu zweiten Beobachtung führt:

These 2: Winnetou ist tot! Oder: Echt ist nur das Spiel.

Aus der Soziologie wissen wir, dass soziale Rollen uns überhaupt erst ermöglichen, wechselseitig in stabile, ja berechenbare Kommunikationsbeziehungen zu treten. Das bedeutet, dass wir nicht als "ganzer (und somit authentischer) Mensch" in eine Situation eintreten, sondern als "Person".

Ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein Café gehen, um einen Kaffee zu trinken. Dann werden sie beim Betreten des Cafés, beim Setzen an einen Tisch von ihrer Körpersprache, ihrer Mimik, ihrem Auftreten her als die Person erscheinen wollen, die eine Bestellung aufgeben kann, als Gast also. Der Kellner wird seinerseits, vorausgesetzt er ist (in seiner Rolle) entsprechend geschult, diesen ihren Eindruck als Rollenträger erwidern, indem er an ihren Tisch kommt, die Bestellung aufnimmt, später den Kaffee bringt und am Ende abkassiert. Ende der Szene und Abgang.

Es war der kanadische Soziologe Erving Goffman, der solche Szenen unter zur Hilfenahme von Bühnenmetaphern beschrieb, um zu zeigen, dass unser soziales Handeln zum Ziel hat, "unser Selbstbild zu erhalten, als eine bestimmte Person gegenüber anderen zu erscheinen,weswegen wir uns inszenieren und diesem Aspekt häufig alles andere unterordnen". Sein heute noch erfolgreiches Buch aus dem Jahr 1959 trug dann auch im Deutschen den schönen Titel: "Wir alle spielen Theater".

Eine solche Rolle überzeugend zu inszenieren ist häufig viel schwieriger als im Kaffeehaus-Beispiel. Denken Sie als Führungskraft nur an die verschiedenen Rollen, in denen Sie unterwegs sind und an die jeweils spezifische Erwartungen geknüpft sind: So sind Führungskräfte Vorgesetzte, die ihre Mitarbeiter anleiten, sind aber auch Mitarbeiterin, die selbst Vorgesetzte hat; sie sind Fachmann, die ihre Expertise einbringen; Coach, der die individuelle Entwicklung der Teammitglieder im Blick hat; sind Moderatorin, die das Teamerleben und Ideenfindung unterstützt … u.v.m. Sie müssen also in der Lage sein, zwischen den mit diesen Rollen verbundenen Identitäten zu wechseln, manchmal sogar innerhalb einer Situation. Sie müssen sich damit ein jedes Mal in eine neue Rolle einfinden. Wo genau ist dort also ihr wahrhaftiges Selbst?

Oder denken Sie denken Sie etwa an junge Führungskräfte, die in ihre erste Führungs­position kommen – und nun nicht mehr "die gleiche Person" sind, obwohl sie doch als "derselbe Mensch" geblieben sind. Sie tun sich mit dieser Rolle anfangs meist schwer – vielleicht ist es Ihnen einmal ähnlich gegangen.

Rollenfindung kann also schmerzhafter Prozess sein: Goffman spricht in seinem erwähnten Buch etwa von angehenden Medizinern, die in den ersten Jahren ihrer Ausbildung hehre Mediziner-Ideale zurückstellen müssen, da sie zunächst all ihre Kraft benötigen, um durch die Prüfungen zu kommen, sie also anfangs sehr viel mehr über Krankheiten lernen müssen als wirklich Kranke zu heilen. Erst am Ende der Ausbildung können sie sich das Ideal des heilenden Berufs wieder zu eigen machen (Goffman 1959: 20ff.).

Insofern macht jeder – und Führungskräfte im Besonderen – im Alltag immer wieder Konzessionen an die eigene Rolle (Stefan Wachtel 2018). Zum Glück, könnte man sagen, lassen sich die meisten beruflichen Rollen aber auch gestalten – man kann die Rolle etwa an eigene Stärken anpassen oder die ein oder andere Rollenerwartung auch "enttäuschen", ohne die Rolle aufgeben zu müssen. Und selbst wenn die Rollenerwartungen gar nicht mehr zu einem passen wollen, dann können sich die meisten Menschen von einer solchen Rolle (immer noch) trennen. Das ist Leuten wie Pierre Brice, dem Darsteller des Winnetou in den berühmten Karl-May-Filmen der 60er Jahre etwa nie gelungen – die Rolle des Apachen-Häuptling Winnetou war für ihn "Segen und Fluch". Die Älteren unter uns werden sich erinnern… Viele Zuschauer konnten (und wollten) irgendwann nicht mehr zwischen dem Schauspieler Pierre Brice und der Rolle Winnetou unterscheiden und so titelten viele Zeitungen (wie etwa die BILD: 2015) als Pierre Brice starb: "Winnetou ist tot."

These 3: Bleiben Sie spielfähig!

Unternehmen und Organisationen halten für Führungskräfte eine enorme Vielfalt von Die große Vielfalt an Zielen und Zwecken bereit, die sich in einer paradoxen Aufgaben- und Rollenstruktur von Führungskräften anlagert, die Führungskräfte ausbalancieren müssen. Mit den gutgemeinten Appellen der Ratgeberliteratur ist es dann meist nicht getan, nämlich ja nur teamfähig, mitarbeiterorientiert, durchsetzungsstark, mutig oder eben authentisch zu sein!

Hinzu kommt eine weitere, zeitliche Dimension: So gibt es eine Differenz zwischen unserem "wahren ich" in der Version von gestern, der Version von heute und der Version von morgen. Welcher Versionen will ich also treu bleiben? Immer dann, wenn ich eine neue Rolle ausfüllen muss ist das mit Unsicherheit verbunden – und mit der Notwendigkeit, meine Komfortzone zu verlassen. Somit ergibt sich ein Echtheits-Problem, wie die Leadership-Professorin Herminia Ibarra (2015) sagt: Denn der Wunsch seinem wahren ich treu bleiben zu wollen widerspricht der Erkenntnis dass wir Menschen uns vor allem über neuere Erfahrungen weiterentwickeln und dabei Facetten unsere Persönlichkeit entdecken können denen wir aus uns nie heraus auf die Spur gekommen werden. Da glauben wir alle dass es wichtig ist sich selbst treu zu bleiben, aber welchen selbst? Mit jeder neuen Erfahrung entwickeln wir uns weiter. Wie können wir also einem zukünftigen ich treu bleiben, von dem wir noch nicht einmal genau wissen, wie es aussehen wird?

Diese Balance macht es vielmehr notwendig, dass Führungskräfte – und nicht nur diese - immer wieder Trampelpfade des eigenen Denkens und Handelns verlassen. Das bedeutet, dass wir eben nicht immer so reden und handeln wie wir es schon immer gewohnt waren  und uns dann eben auch nicht so "authentisch" fühlen (Wachtel 2018). So wie es etwa wohl der jungen Frau im Eingangsbeispiel der Model-Show ging. Das heißt, Risiken einzugehen, etwas Neues oder Anderes zu machen, ohne dass ich schon weiß, zu welchem Ergebnis es führt. "Feeling like a fake can be a sign of growth" sagt die Leadership-Expertin Herminia Ibarra (2015). Denn wenn ich darauf warte, authentisch sein zu können, dass also Fühlen und Handeln im Einklang sind, dann verpasse ich es vielleicht, wichtige Entscheidungen zu treffen oder eben überhaupt zu LERNEN. Um mich entwickeln zu können, muss ich das mir Bekannte und Vertraute verlassen können. Die Schauspielerin Meryl Streep hat das mal treffend so formuliert: "So tun als ob, ist nicht nur Spiel, es ist vorgestellte Möglichkeit."

In diesem Sinne - und um es mit dem systemischen Berater Torsten Groth (2017: 88ff.) zu sagen: Bleiben Sie spielfähig!

 

Quellen:

Ibarra, Herminia, 2015: Act Like a Leader, Think Like a Leader. Boston, MA: Harvard Business Review Press.

Wachtel, Stefan, 2018: Die Kunst des Authentischen. Frankfurt am Main.

Goffman, Erving, 1959: The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City, NY: Doubleday Anchor Books, 

Groth, Torsten, 2017: 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung, Heidelberg: Carl Auer. 

BILD, 6.5.2015: So z.B. die Bild-Zeitung am 6.5.2015: https://www.bild.de/unterhaltung/leute/leute/winnetou-ist-tot-41248864.bild.html. Zuletzt abgerufen am 25.08.2023